Sie werden uns helfen, die zunehmende Komplexität unserer Welt zu managen. Schnelle Ego-Versionen sind die Youtube-Videos von morgen. Und Spiele wie Pokémon GO spielen wir in Zukunft alle und überall: Games sind spätestens 2025 ein selbstverständlicher Teil unserer Alltagskultur – ein Videospiel-Verständnis wird zu einem relevanten Skill der Zukunft. Ich habe daher einen Blick in die Game-Zukunft geworfen.

Die Zukunft beginnt mit einer Schlange Messebesucher unter einem grau glänzenden „O“ auf schwarzem Hintergrund. Bis zu vier Stunden werden Menschen an diesem Messestand an Bildschirmen vorbei warten, auf denen Trailer von Weltraumschlachten oder Eishockeypartien laufen. Sie stehen, sitzen, smartphonen unter dem gigantischen Logo des Unternehmens (aus der Facebook-Familie) Oculus Rift, das heute in einem Spiel mitmischt, das in den 1990ern scheiterte: Virtual Reality (VR). Die Brille mit gleichem Namen ist 2016 auf den Markt kommen.
Linda Breitlauch: „Games erweitern unseren Blickwinkel auf alles“

„Next Level of Entertainment“ hatten PR-Fachleute der weltgrößten Gaming-Messe Gamescom in Köln vor einem Jahr als Parole ihrer Branche ausgegeben. Auch wegen der neuen Flut an VR-Produkten, die hier präsentiert werden – darunter die Oculus Rift. Viele Experten bewerten das unmittelbare Eintauchen in den digitalen Raum als das kommende Spielerlebnis, als Prophezeiung des zukünftigen Zockens. Aber stimmt das? Ist VR die Zukunft von Games? Was werden wir wohl wie spielen? Und wie stellen sich Experten die Zukunft vor?
Augmented Reality: Virtualität und Wirklichkeit werden heiraten
Zum Beispiel so: Den Zombie hinter dem Schreibtisch seines Bürokollegen bemerkt er nicht. Leise röchelnd bewegt das Monster sich auf ihn zu, holt zum Schlag aus – da ertönt ein Schuss von der Seite. Sein Sohn hatte geschossen, er sitzt neben ihm, obwohl er aktuell auf einem anderen Kontinent studiert. Der Spieler rauscht auf seinem Stuhl herum und blickt dorthin, wo der Untote eben seinen letzten Tod starb. Darüber erscheint der Schriftzug: Mission erfolgreich.
Wenn Christopher Kassulke, 36, Chef der deutschen Mobilspielschmiede HandyGames (Das auch bereits VR-Spiele für Smartphones veröffentlicht hat. Beispiel: Hidden Temple VR Adventure), über seine Version der Zukunft spricht, sprudelt seinen Visionen: „Digitale Zombies in der Büropause jagen“, „holographisch eingeblendete Mitspieler“, „Arme, Beine, Kopf als Eingabegeräte“ sind die Zwischentitel seiner Visionen. Und die Überschrift lautet: „Die virtuelle Welt wird sich mit der echten verbinden.“
Augmented Reality (AR) nennen das Fachleute, erweiterte Wirklichkeit, bislang zum Beispiel bekannt aus Apps, die den Namen des Berggipfels anzeigen, wenn der Nutzer sein Handy draufhält. Oder durch einen Prototypen, den aktuell der Computer Science Center in Berlin ausstellt. In diesem Museum für die Zukunft der Mensch-Maschine-Interaktion steht die AR Sandbox – ein Sandkasten, dessen sandige Erhebungen eine Kamera erfasst, diese Daten an einen Beamer weitergibt, der die live berechneten Höhenlinien auf den Sand projiziert. Formt jemand einen neuen Hügel, kalkuliert und zeigt das System neue Höhenlinien.
Eine Sandkornzählerei spielverliebter Landvermessungs-Nerds? Tatsächlich ist es ein Teaser auf das, was gute AR-Games in Zukunft beherrschen könnten: Die Umgebung abtasten, zum Beispiel um Kollisionen virtueller Gegenstände im realen Raum korrekt zu berechnen – damit das digitale Geschoss an der echten Parkbank abprallt und dennoch den digitalen Zombie trifft. Oder der Spieler hinter dem Kastanienbaum vor Angriffen der Untoten in Deckung gehen kann.

Der Sandkasten ist eine Illustration für eine These, die viele Fachleute vertreten: Dass der erneute Boom von Virtual Reality nur eine Zwischenstufe ist – für den nächsten Level digitaler Welten. „AR wird die größte technologische Revolution unserer Ära“, sagte Tim Sweeney , Gründer von Epic Games, in diesem Sommer. Denn „sobald wir AR-Displays haben, brauchen keinen weiteren Bildschirm – kein Smartphone, kein Tablet, keinen Fernseher.“
Zum Beispiel das AR-Display, das Microsoft 2015 präsentierte: Hololens, die Datenbrille, die dem Träger zum Beispiel digitale Bauklötzchenwelten auf den physikalischen Wohnzimmertisch zaubert – und seine Wahrnehmung ausbaut, statt sie zu ersetzten wie eine Oculus Rift. Eine erste Version der Hololinse für Entwickler und Unternehmen soll noch 2016 erscheinen, Spieler kommen frühestens 2017 in den Genuss. Zur Vision von Carsten Fichtelmann würde dieser Zeitplan wunderbar passen.
Holodeck mit schlauer KI: Den Computer mit Argumenten überlisten
Die Zukunft stellt er sich so vor: Der Magier hat vergessen, dass er eigentlich als Spieler in einer Lagerhalle steht. Denn Projektoren zaubern ihm eine dreidimensionale, digitale Welt. Wenn er sich auf den unsichtbaren Laufbändern nach vorne bewegt, berechnet das Spiel die so neu entdeckten Orte. Eben hat er die Hauptstadt des Fantasiereichs verlassen und läuft auf eine Bergkette zu, hier soll wie üblich ein Drache eine Prinzessin gefangen halten. StarTrek-Fans nennen diese Idee: Holodeck.
Carsten Fichtelmann ist Gründer und Chef des deutschen Game-Studios Daedalic Entertainment, bekannt für ruhig erzählte, zweidimensionale Adventures wie „Edna bricht aus“. Fichtelmann freut sich auf eine totale Immersion in ein bis zwei Dekaden, das völlige Eintauchen in erzeugte Digitalsphären. Möglich werden könnte das unter anderem dank schnellerer Prozessoren, die es schaffen, live gigantische Parallelwelten zu berechnen. Vor allem aber freut sich der 45-Jährige auf eine schlaue Künstliche Intelligenz (KI).
Eine KI, die in Zukunft spontan den Spielverlauf ändert. Eine, die selbst lernt. Eine, die fordernde Dialoge beherrscht. „Dann spielen wir zum Beispiel ein digitales Improvisationstheater“, träumt Fichtelmann. Und entwirft die Idee, als einziger menschlicher Spieler ein Whodunit (Abkürzung für „Who has done it?“) mit einer Handvoll KI zu erleben – ein Genre, bei dem einer der Teilnehmer der Mörder ist, und die Detektive über Kommunikation und Logik den Täter ermitteln. „Dann muss ich mich als Mörder mit Argumenten gegen den Computer rausquatschen.“ Gegen einen Gegner, der aufgrund vorheriger Spiele noch ein bisschen schlauer geworden ist.
Und das ist keine Science Fiction. Die Software der Forscher des Georgia Institute of Technology ist 2015 in der Lage, Level von Spielen nach zu programmieren, die sie einige Zeit auf Youtube beobachtet hat – zum Beispiel den Klassiker Super Mario Brothers. Und: „Bereits heute gibt es Algorithmen, die sich das Spielen von Games selbst beibringen“, erklärt Tim Dettmers, 28, Maschine-Learning-Experte von der Università della Svizzera italiana in Lugano. Spiele, deren Start und Ziel nah zusammen liegen (wie ein simples Schießspiel à la Space Invaders) beherrschen diese Programme heute nach ein bis zwei Wochen – und das besser als menschliche Weltklassespieler. „Liegen allerdings zu viele Interaktionen auf dem Weg zum Score, fehlen den heutigen Rechnern noch ein Gedächtnis.“ Fußballspielen von der Pike auf lernt eine Software noch nicht – zwischen Anstoß und Torerfolg liegen zu viele Schritte. Aber schlau agieren kann die Software auch auf andere Weise.
Games und Big Data: „Jedes Spiel wird DEIN Spiel.“
Zum Beispiel, wenn Spiele Daten verarbeiten. „Kontextualisierung wird kommen“, sagt Wilhelm Taht, Alter, Manager des finnischen Unternehmens Rovio, das 2015 mit Angry Birds 2 den Nachfolger eines der erfolgreichsten mobilen Spiele aller Zeiten auf den Markt schoss. Damit meint er: Alter, Geschlecht, bisherige Spielerfahrung, Tageszeit, aktueller Ort – jedes Detail könnte ein Spiel wie Angry Bird 7 berücksichtigen. Der Spieler hatte heute viele Termine? Die Musik spielt etwas gedämpfter. Er spielt nachts? Die Farben sind etwas heller. Er konsumiert seit 50 Jahren Videospiele? Mehr Gegner pro Level. Tahts Vision: „Jedes Spiel wird DEIN Spiel.“
Noch spannender wird es, wenn Spiele auf die intimsten aller Daten reagieren: Biodaten. Wenn sie via Wearable à la Apple Watch merken, wenn der Blutdruck steigt – und die Zahl der anstürmenden Wölfe reduziert. Wenn die Messung des Hautwiderstands Stress signalisiert – und das Game spontan eine ruhige Filmsequenz einspielt. Oder wenn die Software feststellt, dass sich der Spieler langweilt – und noch vor Ende des Abschnitts einen Endboss in den Level schickt.
Zurück zur Gamescom 2015, einige Zeit später unter dem gräulichen „O“: Eine Mitarbeiterin von Oculus-Rift deutet auf Testraum Nummer 16, einer der Geduldigen ist nun an der Reihe. Er betritt den Raum, eine weitere Kollegin setzt ihm die Brille auf, per Knopfdruck startet er ein Eishockeyspiel. Dort erklärt ihm ein digitaler Mitspieler, den er durch seinen Torwarthelm sieht: Unterzahl, Druck, „rechne mit einem Haufen Torschüsse.“ Und: Abwehren per Blickrichtung plus linke oder rechte Taste. Später wird der Tester berichten, dass ihn in diesem Moment der gigantische Anzeigenwürfel unter dem Hallendach mehr faszinierte. Oder das Herumschauen um sein Tor, wenn die Gegner es umkurvten. Aber einen Knopf drücken, den er gar nicht sah? So tief im geschehen, wird er einwenden, aber nichts zum Anfassen, nichts zu spüren?
Virtualität spüren: Was wiegt ein Minecraft-Block?
„Haptisches Feedback im virtuellen Raum – der Aufwand für eine technische Umsetzung ist immens“, erklärt Marc Erich Latoschik, 41, Professor für Mensch-Maschinen-Interaktion an der Universität Würzburg. Seine Vision für zum die Evolution bislang simpel vibrierender Controller: „Oberflächen virtueller Dinge könnten wir über Elektrostimulation spüren, zum Beispiel über einen Handschuh.“ Der „Grip Simulator“ ist auf einem ähnlichen Weg. Das Gadget des US-Unternehmens Tactical Haptics übermittelt den Rückschlag einer digitalen Pistole an den Spieler.
Allerdings bleibt folgendes Problem: Das digitale Objekt hat kein Gewicht. Wie soll die individuelle Masse eines digitalen Legosteins wie bei Minecraft an den Nutzer übermittelt werden? „Irgendwann vielleicht einmal durch ein Exoskelett, das Spieler so limitiert, als würde eine Kraft auf sie wirken“, spekuliert Latoschik. Oder vielleicht erzeugte Kraftfelder? „Nein“, sagt der 41-Jährige. „Das ist Science Fiction.“
„Das ist Science Fiction“ – mit diesem Satz hätten Menschen in den 1990ern auch auf Ideen reagiert, die Aussteller auf der Gamescom 2015 real zeigen: Wie das Spiel „Son of Nor“, bei dem der Spieler seine Magie über Augensteuerung oder gemessene Hirnaktivität einsetzt. Oder wie der Virtualizer, eine Kombination aus VR-Brille und umzäunter Plattform, die Geh-, Hock- und Sprintbewegungen von der Realität in digitale Welten überträgt. Die Beispiele zeigen, dass die Freaks unter uns in Zukunft auf ihre Kosten kommen werden.
Games im Alltag: Demokratisierung digitaler Spiele
Games und Games-Elemente aber werden uns alle zunehmend begegnen. Zum Beispiel wegen David Helgasson, 38, Gründer von Unity, einer Schmiede für Engines, die digitalen Motoren von Spielen (was für Autoren Word ist für Game-Designer Unity). Das Unternehmen hat in den vergangenen Jahren mit seinem Produkt das Spieleherstellen vereinfacht – und wird es in Zukunft (auch für Hololens) weiter simplifizieren. Soweit, dass „Game-Design demokratisiert wird, mehr Leute simpel simple Spiele erstellen“, sagt Helgasson. Ein Game zu erstellen könnte dann das sein, was heute eine kleine Videoproduktion ist. Das Youtube-Selfie-Video von heute ist das Ego-Game von morgen.
VR kommt? Oder doch AR? Schlaue KI und haptisches Feedback? Dazu die Gamification des Alltags? Neben diesem Bataillon an Innovationen aber wird das geschehen, was mit Klassikern der Filmhistorie passiert: Der Pate, der erste Star Wars-Teil, ein Citizen Kane bleiben zeitlos. Edna wird weiterhin in 2D ausbrechen, zornige Vögel werden in Angry Birds 2 durch die Luft schießen – und einige werden auf alten Smartphones Hidden Tempel VR Adventures spielen. Retro-Trends gibt es auch in Zukunft.
Zudem – und das ist die gute Nachricht für alle Technologieskeptiker – bleibt der Kern von Spiel erhalten: „Ich will doch die Leute sehen, die ich besiege“, sagt Christopher Kassulke. Am selben physikalischen Tisch oder gemeinsam virtuell? Völlig egal. Hauptsache: Spielen bleibt eine gemeinschaftliche Veranstaltung. Und das wird es.
Hinweis: Dieser Artikel erschien leicht redigiert in der Zeitschrift MAX, die FUTURE-Ausgabe.
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